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Gastkolumne: Balkonias Urwaldtipps
August 2004

Ach Balkonia, lass uns doch noch etwas ans «Blue Balls Festival» gehen, gemütlich tolle Musik hören und friedlich ein Glas Rotwein trinken. Prima Idee, ich ziehe mir ein paar trendige Hosen an, weil an diesem, Balkonias Lieblingsevent sieht man viele flippig angezogenen Leute und da will man ja nicht abseits stehen. Draussen vor dem Hotel Schweizerhof ist tolle Stimmung, viele Leute, eine englische Band spielt Retro-Musik, bekannte Stücke und das Publikum summt leise mit. Meinen Altersgenossen mit den verklärten Blicken, sieht man es an, dass sie von 1968 träumen, als sie völlig zugekifft neben einem Blumenkind am Strand von Ibiza oder Formentera morgens neben noch etwas verschlafenen Eidechsen aufgewacht sind. Kaspar, der nie gekifft hat und sich auch damals nicht an Strände gelegt hat, sieht dann in jedem zehnten weiblichen Wesen seinen damaligen grossen Schwarm, die Tochter von Kambly-Guezli. So hängt jeder seinen persönlichen Erinnerung nach, nur weil jemand ein altes Dylan-Lied spielt.

Erstaunlicherweise hat es einen freien Tisch mit zwei Stühlen, Balkonias wundern sich, steuern den Platz an, wir setzen uns und freuen uns über dieses Glück. Doris, die Bedienung, offeriert uns zwei Gin and Tonics. So viel Massel hatten wir schon lange nicht mehr. Wir stossen an, was mit Plastikbechern echt doll klingt, und bemerken, dass am Nachbartisch vier erwachsene Personen sitzen. Einer sieht aus wie Jesus auf den Heiligenbildern aus Balkonias Jugendzeit. Auf seinem Schoss räkelt sich seine Tochter, die grad ihre Milchzähne verloren hat, die grinst dauernd und erinnert mich an meine Grossmutter, als diese – schon ziemlich dement – ununterbrochen grinsend ihr Gebiss gesucht hat. Zahnlose Menschen, egal welchen Alters, haben irgendwie das Bedürfnis allen anderen ihre Lücken zu zeigen. Neben Jesus sitzt eine sehr braun gebrannte junge Frau mit Schwindel erregend hohen Absätzen. Deren Sohn, Kevin – ebenfalls zahnlos – kommt angedüst, schmeisst zwei halbvolle Bierbecher um, die restlichen Plastikgläser plus ein Fläschchen Cola schaffen die Kinder des Ehepaares vis à vis.

Das Gebrüll am Nachbartisch («Kevin lass das» , «Papi, ich will nach Hause» etc.) übertönt die Musik spielend. «Balkonia, lass dir den Spass nicht verderben, die gehen jetzt sicher bald. Schliesslich müssen die Kinder ins Bett», sagt Kaspar und am Nachbartisch wird eine weitere Runde Bier bestellt. «Komm lass uns das Jetzt-Spiel spielen» werde ich weiter ermuntert. Die Regeln dieses Spiels sind denkbar einfach: wer gleichzeitig «Jetzt» sagt, wie die vorübergehende Frau das zu kurze T’Shirt versucht über den Bauchnabel zu ziehen – nicht perfekt gewachsene Frauen machen das augenblicklich, wenn ihnen so eine Fitnessstudio Gestählte entgegen kommt – kriegt einen Punkt. Einen Punkt gibt es auch, wenn «Jetzt» gleichzeitig kommt mit Hosenraufziehen bei Männern. Kevin will grad den Rest der Cola ins Keyboard der Band giessen, die Mutter hinterher. «Jetzt» Kaspar und Balkonia sind gleichzeitig, die Braungebrannte auch. Spielstand 1:1. Bei 18:17 und nach vier weiteren Runden am Nachbartisch werden dort die Autoschlüssel gesucht, die daumenlutschenden Kinder eingesammelt und es kehrt Ruhe ein. Balkonias gehen dann noch rein an die Bar auf den letzten Drink, verlassen den Saal, die Musik für kurze Zeit in uns konserviert, da gibt es einen dumpfen Knall, Teile der antiken Stuckdecke haben sich gelöst und sind genau dort hin gedonnert, wo wir vor einer Minute noch standen. An jenem Abend hatten wir wirklich viel Glück, trotzt Kevins und so.

Balkonia wünscht allen ihren Leserinnen und Lesern tolle Sommernächte mit viel Musik, fröhlichem Kindergeschrei und dass niemandem die Decke auf den Kopf fällt.

Bis bald, Eure Balkonia