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Gastkolumne vom Juni 2002

 Als Balkonia noch klein war, wurde sie jährlich zu zwei Wochen Ferien bei der Oma verknurrt. Die Oma wohnte bei meinem Onkel, dessen Frau und meiner schrecklichen Cousine Carola und deren noch schrecklicheren Bruder. Die fünf lebten in einem Reiheneinfamilienhaus mit viereckigem Garten in einem Kaff in der Nähe von Köln. Mein Vater brachte dann die heulende Balkonia an den Bahnhof in Luzern, suchte sich ein nett aussehendes Ehepaar im Zug aus und bat diese, die kleine unglückliche Balkonia in Köln auf den Bahnsteig zu stellen. Wundersamer Weise hat das immer geklappt. Dort stand dann meine Verwandtschaft und schleifte mich zum Auto, das sie vorsorglich mit alten Zeitungen ausgelegt hatten, weil mittlerweile bekannt war, dass die kleine Schweizerin beim Autofahren alle zehn Minuten kotzt.

Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde! Am Zielort wurde ich dann in den langweiligen Rasen gesetzt und die Familie beschäftigte sich mit der gründlichen Reinigung des Wagens, weil ich immer eine Lücke zwischen den Zeitungsbogen fand - dies in der Hoffnung, dass ich nächstes Jahr nicht von See, Berge und unserem verwilderten Garten getrennt würde. Das Schlimmste an meinem Zwangsaufenthalt waren allerdings die Mahlzeiten. Die Hausfrau, meine Tante Hella, beschäftigte sich damit praktisch den ganzen Tag und die halbe Nacht. Es gab Frühstück mit Wurst und Käse, dann Znüni gefolgt von Mittagessen und um vier Uhr Kuchen und Tee. Abends wurde dann so richtig was Anständiges auf den Tisch gebracht, weil dann auch Onkel Gerhard anwesend war.

Onkel Gerhard war der Ernährer der Familie und der musste gesund bleiben und das bleibt der Mensch nur, wenn er genügend Vitamine kriegt. Diese kamen jeden Abend in Form eines kleinblättrigen grünen Salates namens Rauke auf den Tisch. Um den etwas eigenwilligen Geschmack des sperrigen Krautes zu mildern wurde das Grünzeug in eine «Tunke» getaucht, die hauptsächlich aus Zucker bestand. Balkonia, wurde ich ermahnt, iss deinen Salat. Ich würgte, litt und schwor mir nie freiwillig Rauke zu essen.

Mit dem Tod meiner geliebten Omila verlor ich auch die gehasste Rauke aus den Augen, jedenfalls bis vor etwa zehn Jahren. Da schlich sie sich von Süden kommend unaufhaltsam wieder in Balkonias Leben. Ich vermute, dass deutsche Soldaten die Samen ihres Lieblingsvitaminspenders heimlich im Mussoliniland ausgesät haben, wo es sich jetzt wie Unkraut vermehrt. Was den Deutschen nie gelungen wäre, nämlich einen stachligen Salat namens Rauke in der Schweiz zu verkaufen, haben die Italiener elegant geschafft. Sie bündelten das Unkraut zu Zehngrammsträusschen, verkauften es zu Preisen die an Tartuffi Bianchi oder Kaviar erinnern und nannten das Edelkraut Ruccola. Diesem Marktpreis entsprechen kam es sparsam aufs Carpacchio und ich schloss einigermassen Frieden mit den würzigen Blättchen. Aber eben, es kam wie es kommen musste. Schweizer Gärtner pflanzen seit Jahren ebenfalls Ruccola an und dann heisst es eben schnell Angebot und Nachfrage; der Umsatz steigt, der Preis sinkt, der Umsatz steigt noch mehr und so weiter – sehr zum Leidwesen von Balkonia: Nun grüsse ich alle meine Leserinnen und Leser mit den Worten von Pitsch Weber: «...und überall hätt's Rauke dra, cha's nid verschtah, cha's nid verschtah», oder so ähnlich.

Viele liebe Grüsse, Ihre Balkonia